Es gibt Medaillen, die wie Gold glänzen sollten. Und doch fühlen sie sich an wie Blech. Genau so ging es mir bei der Weltmeisterschaft in Seoul. Auf dem Papier habe ich Silber gewonnen – in Wirklichkeit habe ich in diesen Tagen weit mehr verloren und gleichzeitig gewonnen, als eine Medaille je ausdrücken könnte.
Ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang
Die Reise nach Seoul war von Anfang an ein Wagnis. Kurz vor dem Abflug erfuhr ich, dass ich eines meiner wichtigsten Medikamente nicht mit nach Südkorea nehmen darf. Eine Umstellung war weder zeitlich noch aufgrund fehlender Alternativen möglich. Zwar hätte ich mein Medikament in einer MS-Klinik in Seoul bekommen können, aber es hätte erst aus Europa angefordert werden müssen – Wartezeit: zwei bis vier Wochen. Also unmöglich.
Meine Neurologen konnten oder wollten mir keine klaren Konsequenzen einer Absetzung nennen. Also beschloss ich, das Experiment zu wagen: vier Tage vor Abflug setzte ich mein Medikament ab. Die ersten Tage waren alles andere als leicht. Mir wurde sogar geraten, nicht zu fliegen. Doch am Sonntag, als ich das Gefühl hatte, mich etwas an die Situation gewöhnt zu haben, beschloss ich, mitzuziehen – in der Hoffnung, dass alles gut gehen würde.
Ein Nervensystem im Alarmmodus
Die Reise selbst verlief überraschend gut, auch der Flug, der sonst immer eine große Herausforderung für mich war. Doch was ich seit dem Absetzen des Medikaments deutlich spürte: mein Nervensystem war permanent in Alarmbereitschaft. Menschenmengen kosteten mich viel Energie, und gleichzeitig kam ich nicht zur Ruhe – eine fatale Kombination.
Nachts, wenn die Spastik „Redebedarf“ hatte, war auch mein vegetatives Nervensystem hellwach: „Oh, du bist wach? Super! Was machen wir jetzt? Können wir spielen?“ Oft stand ich deshalb schon um vier Uhr morgens auf der Yogamatte, um meinen Körper zu beruhigen und die Schmerzen der Spastik zu lindern. Schlaf war ein rares Gut.
Training, Hoffnung – und Grenzen
Als wir am Tag nach der Ankunft zum Training fuhren, war ich überrascht, wie gut es lief. Doch ich
merkte schnell: ich war nurkurzfristig leistungsfähig, meine Energie schnell verbraucht. Die Spastik zu lösen, wurde für Michi (unsere Physio) und mich zu einer extremen Herausforderung. Atmen
wurde zu meiner Lieblingsbeschäftigung.
Seoul selbst stellte mich ebenfalls vor Probleme. Die Stadt ist alles andere als behindertenfreundlich. Ich beschloss, mit Orthesen zu gehen – ein Fehler. Mein Tonus war so hoch, dass ich die Orthesen nicht mehr wie gewohnt ansteuern konnte. Ich lief wie in meinen Anfängen, eine extrem herausfordernde und frustrierende Erfahrung. Als ich endlich zurück ins Hotel kam und in den Rollstuhl wechseln konnte, war ich erleichtert.
Doch es gab auch schöne Momente: das Abendessen mit Fabi und Kevin, das mich zur Ruhe brachte. Oder die kleine Abenteuerreise durch die Straßen Seouls im Regen, bei der ich bergab nicht mehr bremsen konnte. Seoul ist in vielerlei Hinsicht ein Abenteuer.
Der Wettkampf beginnt
Am Morgen des Wettkampfs wärmte ich mich noch im Hotel auf – das Wetter war schlecht, die Aufwärmmöglichkeiten vor Ort eher bescheiden. In der Metro nutzte ich sogar die Gelegenheit für ein paar Klimmzüge. Ich fühlte mich gut vorbereitet.
Die erste Route gab mir ein großartiges Gefühl. Ich war schnell im Flow, kämpfte mich durch, und mit Hilfe des Supports schaffte ich das fast Unmögliche: ich war am Top angekommen. Ich war überglücklich. Doch mein Körper hasste mich dafür. Die Spastik setzte massiv ein, Michi brauchte viel Kraft, um mich zu behandeln, und ich musste sofort wieder für die zweite Route aktivieren.
Die zweite Route war leichter. Ich war froh, sie nach der schweren zu klettern, denn mein Körper war erschöpft. Trotzdem kämpfte ich mich durch, bis kurz vor dem Top. Endstation. Ich war am Ende meiner Kräfte – und trotzdem glücklich. Ich hatte das Unmögliche geschafft und die Qualifikation mit riesigem Abstand gewonnen.
Doch mein Körper war leer, voller Schmerzen. Ich freute mich auf die Pause von vier Tagen, ohne zu wissen, dass genau das mein Verhängnis werden würde.
Schmerz, Überlebensmodus und ein Rücktritt
Der 23. September war ein besonderer Tag: mein 7. Jahrestag. Normalerweise ein Tag der Dankbarkeit – diesmal der schlimmsten Schmerzen, die ich je hatte. Ich steckte im Überlebensmodus fest. Meine Spastik ging durch die Decke, mein Nervensystem war kurz vor dem Kollaps. Ich kam mit dem Schlafmangel nicht mehr klar.
Als Sandra nach ihrer Qualifikation ihren Rücktritt verkündete, brach mein letzter Halt. Ich versank in einem Tränenbad.
Finale – und ein geplatzter Traum
Am nächsten Tag hatten Linda, Markus und Angelino ihr Finale. Sie lieferten großartige Leistungen,holten den Weltmeister- und Vizeweltmeistertitel. Ich freute mich für sie – und hoffte auf meinen eigenen Glanzmoment am nächsten Tag.
Doch im Finale passierte etwas, das ich bis heute nicht verstehe. Ich war an der Wand, aber nicht anwesend. Ich kletterte wie in einem Tunnel, sah mich selbst, doch nicht die Griffe. Ich steckte fest, versuchte noch nachzuschleppen – und flog aus der Route. Als ich die Wertung sah, brach meine Welt zusammen.
Ich verließ die Halle so schnell ich konnte und brach draußen endgültig zusammen. Die Enttäuschung über mich und meine Leistung war riesig. Ich fragte mich, warum mein Körper nicht noch ein paar Stunden durchhalten konnte. Unter den Umständen hatte ich Großartiges geleistet – und doch fühlte es sich an wie Versagen.
Silber, das schmerzt
Ich hatte für diesen Trip mit meiner Gesundheit gespielt, war über meine körperlichen und mentalen Grenzen gegangen – und stand am Ende doch wieder mit dem Gefühl da, nicht genug zu sein. Das schmerzt. Vor allem, weil ich zum ersten Mal seit langer Zeit so etwas wie Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen gespürt hatte.
In diesem Moment wollte ich nur noch eines: nach Hause.
Ein Blick nach vorn
Jetzt heißt es für mich, in den nächsten Tagen wieder mit meinem Medikament klarzukommen, mich zu erholen – und dann zu analysieren, wie es weitergeht.
Silber glänzt auf dem Papier. Aber manchmal fühlt es sich an wie Blech.